Wer sich auf die Unterstützung einer anderen Person verlässt, verliert mit der Zeit die Fähigkeit, sich selbstständig zu bewegen.
- Geben Sie Ihrem Gegenüber die Chance, sich selbst zu bewegen – auch wenn es länger dauert und anstrengend aussehen mag. Nur so werden Sie herausfinden, welche Bewegungen allein gelingen und wo wirklich eine Unterstützung erforderlich ist.
 
Das Kinästhetik-Konzept beinhaltet wichtige Grundsätze, die Sie für eine gelingende Unterstützung nutzen können.
Signalisieren Sie dem Gegenüber durch eine sanfte Berührung, eine Bewegung zu beginnen. Dies funktioniert auch ohne Worte – vielleicht sogar noch besser, da Worte von der Berührung ablenken können. Der Impuls Ihrer Hand vermittelt die passende Information.
Tipp: Gewöhnen Sie sich eine immer gleiche Geste oder Berührung für bestimmte Bewegungen an.
Warten Sie auf die Bewegung der anderen Person. Nur so können Sie erkennen, in welchem Moment und bei welchem Teil der Bewegung Ihre Unterstützung tatsächlich benötigt wird.
Tipp: Beobachten Sie, ob die Bewegungen Ihr Gegenüber anstrengen und passen Sie die Unterstützung situativ an. Vielleicht hilft es, die Bewegung schneller oder langsamer auszuführen? Oder aber es gibt ein Hilfsmittel, welches in einer Bewegung unterstützen könnte?
Geben Sie durch Ihre Hände einen Bewegungsimpuls. Das kann beispielsweise eine Berührung am Becken sein, die durch leichten Druck verdeutlicht, in welche Richtung die Bewegung ausgeführt werden soll.
Tipp: Lassen Sie sich bei einer individuellen Schulung zu Hause konkret zeigen, wie man in verschiedenen Bewegungen Impulse setzen kann und was diese bewirken.
Eine hilfebedürftige Person zu bewegen, ist immer anstrengend. Je größer, schwerer und eingeschränkter jemand ist, umso mehr besteht die Gefahr, sich selbst zu überlasten. Verringern Sie diese Anstrengung. Vermeiden Sie das Anheben! Es ist weniger anstrengend, Impulse zu geben, Bewegung anzuleiten sowie schrittweise und kontrolliert vorzugehen.
Tipp: Besuchen Sie einen Kinästhetik-Kurs, um sich bewusst mit Bewegungsabläufen auseinanderzusetzen und zu lernen, wie Sie Bewegungsunterstützung mit weniger Anstrengung gestalten können. Die Kurse werden unter dem Titel „Mehr Beweglichkeit erreichen“ angeboten.
- Was so einfach klingt, ist alles andere als schnell gelernt. Geben Sie sich und dem anderen Menschen Zeit, (neue) Bewegungsvarianten zu erlernen und zu üben.
 
Wie funktioniert Kinästhetik?
Frau Grünewald erläutert, wie mit Hilfe von Kinästhetik die Unterstützung von Bewegung leichter fällt.
Wie funktioniert Kinästhetik?
Was sind Massen und was sind Zwischenräume?
Kinästhetik hat eine besondere Sprache und die teilt den Körper ein in sogenannte Massen und Zwischenräume. Und Massen sind Kopf, Brustkorb, Becken, zwei Beine und zwei Arme. Und das sind die Teile, die das Gewicht tragen, wo das Hauptgewicht ist, die fest sind von der Struktur. Und alles was dazwischen ist, sind die Zwischenräume, also sprich der Hals, die Achseln, die Taille und die Leisten. Und die sind total wichtig, damit ich überhaupt die Massen bewegen kann.
Wenn der Hals steif ist, dann bewege ich mich so. Wenn der Hals frei ist, also der Zwischenraum Hals, dann kann ich den Kopf drehen, kann ich gucken „Was passiert da hinten?“, aber in dem Moment, wo der Hals fest ist, geht nichts mehr. Oder wenn die Achsel fest ist, weil da jemand reingreift, kann ich mich nicht mehr bewegen.
Wozu dient die Einordnung der Körperbereiche?
Also wenn ich mir klar mache, ein Mensch besteht aus verschiedenen Massen, die ich jeweils einzeln bewegen kann, dann komme ich weg von der Idee: „Boah, ich habe da so einen ganzen Menschen und muss den irgendwie bewegen.“ Muss ich gar nicht. Ich kann sagen: „Okay, der hat einen Arm und der kann jetzt vielleicht mal mit dem Arm hier rübergreifen.“ Oder er hat ein Bein und kann das Bein aufstellen, wenn er sich z. B. in Rückenlage befindet und auf die Seite drehen soll. Und ich komme weg von diesem: „Boah, der ganze Mensch und Hauruck und rum.“ Muss ich gar nicht. Also ich kann mir den Menschen einteilen und Schritt für Schritt einfach arbeiten, Masse für Masse, und damit mache ich mir das Leben leichter, die Bewegung leichter und natürlich auch für den Betroffenen, weil der einfach mitarbeiten kann. Ansonsten denkt der: „Oje, was passiert?“ Aber wenn er weiß: „Stell‘ mal ein Bein auf.“, dann kann er sagen: „Ah, ich soll ein Bein aufstellen.“ Also wichtig ist, dass ich die Zwischenräume nicht anpacke, nicht irgendwie in den Hals reingreife oder unter die Achseln, weil damit blockiere ich den Menschen. Ich kann die Massen anfassen, dass ich da einen Impuls gebe und sage mal: „Komm, dreh mal deinen Kopf, geh in die Richtung.“ Und ich bin an den festen Anteilen, an den sogenannten Rückseiten von den Massen. Aber Finger weg aus den Zwischenräumen. Damit mache ich denjenigen immobil, steif und der kann nichts mehr tun. So, er wird immobil.
Und ich will ja, dass er was tut, und er soll die Bewegung selbst kontrollieren, dass er mitmachen kann. Das ist ja mein Ziel. Je mehr der andere mitmacht, umso weniger muss ich unterstützen. Und das ist das Schönste, was passieren kann. Dass der andere etwas tut.
Wie sieht Ihre Arbeit in der Praxis aus?
Also ich hatte mal eine Tochter, die ihre Eltern pflegte. Die Mutter war am Rollator mobil. Ein bisschen korpulenter, war gestürzt und der Vater war im Krankenhaus wegen Durchfall und musste häufig auf Toilette bzw. er war so wackelig geworden, dass er eben nicht mehr zur Toilette laufen konnte, wie das vorher der Fall war, sondern es gab eben einen Toilettenstuhl am Bett. Und die Tochter half ihm immer hoch vom Bett und, ich sag jetzt mal, hievte ihn rum in den Toilettenstuhl, also packte ihn so, die waren nah beieinander und das war schwer. Ja, der Vater war ein Stück größer und die Tochter war jetzt auch nicht die stabilste. Und der Mann war geschwächt und der suchte Halt, ja. Der wollte einfach sicher stehen. Und es ist immer die Frage: „Was gibt mir Sicherheit?“ Und ich habe dann einfach gedacht: „Ich stelle mal einen Stuhl davor“ und ich musste dem gar nichts groß erklären, also er war auch bisschen dement, so, aber er wusste genau, was zu tun war. Er hat einfach sich am Stuhl festgehalten und wir haben das Bett ein bisschen höher gemacht. Wenn das Bett höher ist, dann komme ich natürlich leichter hoch und der Mann hat sich festgehalten und ist aufgestanden und hat eine Viertelumdrehung gemacht und hat sich auf den Toilettenstuhl gesetzt und die Tochter, die guckte mich an und sagt: „Das gibt's doch nicht!“
Die war so berührt auch, oder auch ein bisschen erschrocken, fast auch erschrocken, weil sie sagte: „Mensch, was habe ich die ganze Zeit gemacht? Ich habe den gepackt und rumgehievt und mein Rücken - und der kann es ja alleine.“ Und der konnte es alleine, weil wir einfach nur das Bett ein bisschen höher gemacht haben. Klar, wenn Sie auf einem Barhocker sitzen, kommen sie leichter hoch, als wenn sie auf der Couch sitzen. Und der Stuhl. Klar, der Stuhl muss fest stehen, aber es reicht, wenn die Tochter sich draufsetzt und dann auch erstmal in Augenhöhe ist, was natürlich schöner ist als von oben runterzugucken. Und es war echt beeindruckend, also, weil der Vater war damit selbstständig. Weniger ist meistens mehr. Ja, mich zurückhalten, ein bisschen Zeit geben und es braucht, es ist manchmal nur so viel weniger Zeit. Und es macht den Unterschied. Es macht den Unterschied, wenn ich einfach ein bisschen mich zurücknehme und erstmal gucke. Je mehr der andere, der Betroffene, machen kann, desto weniger muss ich tun und desto mehr kann ich mich schonen. Meinen Rücken schonen, meine Kräfte schonen. Sowohl meine körperlichen Kräfte, wie auch meine seelischen Kräfte. Weil, wenn ich den Eindruck habe: „Ich muss alles machen!“, das belastet enorm. Aber wenn ich merke: „Der andere kann ja was tun“, also das macht auch, das macht viel leichter. Das macht die Beziehung auch leichter. Ja, also ich kann da nur jeden ermutigen, ermuntern, sich auf den Weg zu machen. Das ist ein Weg. Ja, Kinästhetik ist eine Sprache. Die erlerne ich nicht irgendwie in einer Stunde, deswegen ist ja auch toll, mehrere Hausbesuche zu machen oder einen Kurs zu machen für pflegende Angehörige. Weil, ja, Chinesisch kann ich auch nicht in einer Stunde lernen. Ja, das ist wirklich ein Weg, aber er lohnt sich. Er lohnt sich total.
- Jedes Gelingen von Bewegungen mit weniger Anstrengung ist ein großer Erfolg! Zeigen Sie dies deutlich, denn das motiviert Sie beide für die Zukunft.