Grenzüberschreitungen und ihre Folgen
Die vielfältigen Belastungen in einer Pflegesituation können zu Konflikten zwischen den beteiligten Personen führen. Dieses Kapitel benennt mögliche Ursachen.
Was begünstigt schwierige Situationen?
Die Pflegeforschung hat Risikofaktoren für schwierige Situationen ermittelt, in denen es schnell zu Grenzüberschreitungen kommen kann. Hier einige Beispiele:
Wer schon früher viele Konflikte in der Familie hatte, wird in einer Pflegesituation wahrscheinlich kein besseres Verhältnis erleben. Familiäre Probleme aus der Vergangenheit erhöhen das Risiko für Grenzüberschreitungen in der Pflege deutlich.
Mitgefühl und tiefe Verbundenheit sind gute Gründe für die Übernahme von Pflegeverantwortung. Dagegen sind reines Pflichtgefühl, Druck von außen oder finanzielle Interessen eher ungünstige Voraussetzungen für eine harmonische Pflegesituation.
Pflegende Angehörige sind manchmal selbst stark beansprucht oder chronisch krank. Je mehr eigene Krankheiten und Probleme eine Person hat, desto weniger Kapazitäten bleiben für die Bewältigung von schwierigen Momenten.
Viele Krankheitsbilder gehen einher mit Besonderheiten, die den Aufwand der häuslichen Pflege erhöhen können. Dazu gehören beispielsweise Inkontinenz, stark verlangsamte Bewegungsabläufe, etwa bei Parkinson, oder ständig wiederholte Fragen bei Menschen mit einer demenziellen Erkrankung. Aus Unwissenheit beschuldigen Angehörige pflegebedürftige Personen manchmal, sich nicht genug anzustrengen oder unachtsam zu sein.
Sozial unangepasste oder sogar aggressive Verhaltensweisen können bei verschiedenen Erkrankungen auftreten. Für die Angehörigen kann das sehr belastend und das Verhalten ggf. schwer nachvollziehbar sein. Der Umgang damit ist immer eine Herausforderung, die permanenten Stress für alle Beteiligten bedeuten kann.
Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit, Konflikte konstruktiv zu lösen. Wer auch in anderen Lebensbereichen bei Auseinandersetzungen nur begrenzte Möglichkeiten für eine empathische, wertschätzende und friedfertige Lösung sieht, wird sich wahrscheinlich auch in einer Pflegesituation entsprechend verhalten.
Geldsorgen können existenzielle Sorgen auslösen. Die Anschaffung teurer Materialien, etwa für die Wundversorgung, verstärkt eventuell bestehende Finanznöte. Dies birgt Konfliktpotenzial.
Eine Pflegesituation kann Idealvorstellungen vom Alter, vom Eltern-Kind-Verhältnis oder vom Familienleben enttäuschen. Die Trauer darüber, dass sich das Leben anders darstellt als gewünscht, kann sich sowohl bei Pflegepersonen als auch bei Pflegebedürftigen in Wut ausdrücken.
Wann spricht man von Gewalt?
Bei der Frage, was unter Gewalt in einer Pflegesituation zu verstehen ist, orientieren sich Fachleute an der Definition von Margret Dieck, einer bekannten Gerontologin.
Vereinfacht gesagt findet Gewalt statt, wenn eine Person mehrfach auf eine Art und Weise handelt oder nicht handelt, die eine gravierende negative Auswirkung auf die Befindlichkeit ihres Gegenübers hat.
Gewalt hat also negative Folgen für das Wohlbefinden einer Person. Damit ist sowohl das körperliche als auch das seelische Wohlbefinden gemeint. Dies ist wichtig, denn auch Worte können verletzen. Für Margret Dieck kann auch Nicht-Handeln eine Form von Gewalt darstellen, wenn jemand etwa notwendige Hilfen verweigert oder herauszögert. Indem sie ihren Blick auf das Wohlbefinden richtet, kann eine Gewaltausübung auch unabsichtlich erfolgen. Es zählt nur die Frage, ob ein Verhalten Leid zugefügt hat.
Besonders schlimm sind die Folgen, wenn Gewalt über lange Zeiträume ausgeübt wird. Auf Dauer können auch scheinbar harmlose seelische und körperliche Verletzungen das Wohlbefinden einer Person deutlich beeinträchtigen. Das heißt aber nicht „Einmal ist keinmal“! Es gibt schwerwiegende einmalige Gewaltereignisse.
Formen von Gewalt
Vom genervten Augenrollen bis zur Handgreiflichkeit kann Gewalt viele Gesichter annehmen. Es lohnt sich, die verschiedenen Formen von Gewalt kennenzulernen.
Unter seelischer Gewalt verstehen Fachleute Verhaltensweisen wie Beschimpfungen, Einschüchterungen, Beleidigungen, Demütigungen oder Herabwürdigungen.
Zur körperlichen Gewalt gehören Schlagen, Treten, Schubsen, Kratzen oder Beißen. Ein übermäßig fester Griff, ein ruppiges Vorgehen beim Anreichen von Essen oder im körperlichen Umgang sind ebenso möglich.
Eine Vernachlässigung liegt vor, wenn jemand einen Missstand oder Hilfebedarf ignoriert. In vielen Fällen zeigt sich Vernachlässigung, wenn eine pflegebedürftige Person keine Unterstützung bei der Körperpflege erhält, obwohl dies dringend nötig wäre.
Wer die Notlage oder Schwäche eines Menschen oder eine von Abhängigkeit geprägte Beziehung nutzt, um sich unrechtmäßig am Vermögen einer Person zu bereichern, beutet diese finanziell aus. Gefährdet sind vor allem kognitiv beeinträchtigte Menschen.
Auch Pflegepersonen können Opfer finanzieller Ausbeutung sein, wenn sie beispielsweise für die Pflege und Versorgung ihrer Angehörigen keinerlei Gegenleistung erhalten, obwohl sie darauf angewiesen wären.
Eine freiheitsentziehende Maßnahme schränkt die Freiheit einer Person ein, etwa indem diese eingesperrt, fixiert oder medikamentös ruhiggestellt wird. Ein Freiheitsentzug liegt auch vor, wenn jemand den Zugriff auf Hilfsmittel wie Gehhilfen verwehrt.
Missachtet eine Person die Intimgrenzen ihres Gegenübers durch unerwünschte Berührungen, anzügliche Bemerkungen oder sexuelle Anspielungen, übt sie sexualisierte Gewalt aus. Dazu zählt auch, sexuelle Handlungen einzufordern oder unter Zwang auszuführen.
Jede Form von Gewalt ist inakzeptabel. Alle Menschen haben ein Recht auf ein gewaltfreies Miteinander.
In einer Befragungsstudie des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) gaben 40 Prozent der pflegenden Angehörigen an, in den letzten 6 Monaten bewusst Gewalt gegenüber der pflegebedürftigen Person ausgeübt zu haben. Häufig handelte es sich dabei um psychische Gewalt durch Anschreien, Einschüchtern oder Bedrohen. Körperliche Gewalt haben 12 Prozent der Befragten angewendet. Umgekehrt haben 45 Prozent der pflegenden Angehörigen gewaltsame Verhaltensweisen der pflegebedürftigen Person erlebt. Auch hier handelt es sich vor allem um psychische Gewalt. Gewaltsames Verhalten zeigen nach dieser Befragung vor allem Menschen mit Demenz.
Eskalationsstufen in der häuslichen Pflege
Frau Dr. Toppe erläutert, in welchen Situationen die häusliche Pflege eskalieren kann.
Frau Dr. Toppe erläutert im Video:
„Es gibt allerhand unterschiedliche Eskalationsstufen, glaube ich, in der häuslichen Pflege von beiden Seiten. Also es gibt ja auf der einen Seite Aggression oder auch herausforderndes Verhalten durch die zu pflegende Person. Da kommt es dann zum Beispiel manchmal zu Wortgefechten. Es kann auch zu Handgreiflichkeiten kommen. Und es ist auch sehr abhängig natürlich von der Erkrankung. Also ist das eine Person, die schon immer so ein Verhalten gezeigt hat? Ist es eine Person, die aufgrund einer Erkrankung plötzlich eine Persönlichkeitsveränderung erfährt? Gab es einen Schlaganfall? Ist es eine Demenz? Liegt eine Behinderung vielleicht vor? Hat die Person Schmerzen, kann es anders nicht äußern?
Dennoch, unterm Strich erfährt ja die pflegende angehörige Person Gewalt. Ganz gleich, wie erstmal der Auslöser ist. Und es gibt auf der anderen Seite aber auch Gewalt, die ausgeübt wird durch die pflegenden Angehörigen. Da kommt es dann zu ganz unterschiedlichen Dingen. Es kommt zu verbaler Gewalt, es kommt manchmal zu Ruppigkeiten. Das kriegen wir auch öfter berichtet. Es kommt dazu teilweise, dass Menschen fixiert werden. Also das sind wirklich dann so die Stufen, wo man merkt, die Belastung ist auch so hoch, dass man anders sich nicht mehr zu helfen weiß. Es kommt aber auch zu innerfamiliären Konflikten. Dann gibt es Streit darum, wie die Pflege aufgeteilt wird. Plötzlich gibt es nur noch Anwälte. Und es geht dann gar nicht mehr um die pflegebedürftige Person, sondern darum, wer Recht hat. Es gibt so ganz unterschiedliche Formen von Konflikten, die da stattfinden können. Und wenn man Pech hat, finden alle gleichzeitig statt.
Ein ganz typisches Beispiel ist natürlich bei an Demenz erkrankten Menschen, dass die dann gerade in der Generation, die jetzt hochbetagt ist, auch einfach viele Menschen zum Beispiel irgendeine Form von Traumatisierung erfahren haben. In der Kriegszeit, in der Nachkriegszeit. Und durch diese Demenz dann auch in ihrer Orientierung teilweise so eingeschränkt sind, dass man davon auch sprechen kann.
Die Personen werden durch irgendwas getriggert und werden aggressiv. Und in dem Moment weiß sich niemand zu helfen. Es kommen aber auch Situationen vor, wie es gibt, es kommt zu Verkennungen, zum Beispiel. Es gibt eine Lampe im Raum, die wirft einen komischen Schatten. Die Person kann das nicht mehr richtig wahrnehmen und einordnen. Es macht ihr Angst, sie wird aggressiv. Angehörige sind in dem Moment völlig überfordert. Was macht man dann? Kann ich die Person festhalten? Werde ich dann geschlagen? Das ist ja kein Wissen, das man einfach so hat. Wie gehe ich damit um? Ich glaube, die wenigsten Menschen wissen einfach von Natur aus, wie man mit einem Menschen umgeht, der sich offensichtlich in einer Krise befindet.
Es kommt auch zu Situationen, wo es dann eben verbale Konflikte gibt. Dass dann eben auch Dinge schwelen, also lange währende Konflikte einfach schwelen zwischen zum Beispiel Mutter und Tochter. Und das dann irgendwann herausbricht. Und dann kommt es zum Streit. Manchmal kommt es dann auch einfach durch Ungeduld zu Ruppigkeiten, dass man irgendwie mal mit der Bürste einfach ein bisschen doller bürstet. Also so Situationen, die den Menschen aber oft auch auffallen und dann auch für die so ein Schlüsselmoment sind, wo sie sagen: ,Okay, ich brauche Hilfe, das möchte ich so nicht.'
Im Optimalfall ist das ein Schritt, um die eigenen Grenzen kennenzulernen und zu merken: Wann brauche ich eigentlich Unterstützung? Vielleicht muss jetzt mal jemand kommen. Vielleicht kann ich das gar nicht alles alleine machen.
Also es ist ja ganz oft auch einfach eine Folge von Überlastung, von ganz starker Überlastung. Natürlich gibt es Fälle von Menschen, die gewalttätig werden, da wäre das so oder so passiert. Da hätte man es nicht beeinflussen können. Aber es gibt auch häufiger Fälle, da Gewalt ja eben nicht nur körperliche Gewalt ist, dass es auch anfängt mit Beleidigungen, manchmal auch so Drohungen: ,Dann kommst du ins Heim', oder irgendwas in der Richtung. Das gibt es ja auch. Eben auch diese verbale Gewalt, die teilweise im Vorfeld. Das sind ganz oft auch einfach Folgen von einer starken Überlastung. Die Menschen machen alles alleine. Die sind einfach komplett überfordert mit der Situation. Und dann läuft es nicht so, wie es laufen könnte oder wie man sich das vorgestellt hat. Dann braucht zum Beispiel der Vater länger, um aus dem Bett aufzustehen oder möchte die Tabletten nicht nehmen oder sonst irgendwas in der Richtung, wo wir das Gefühl haben, ich habe keine Handlungsfähigkeit mehr auf einmal. Ich kann hier nicht mehr mitbestimmen, ich bin eingeschränkt in meiner Kontrolle der Situation und dann kann das natürlich kippen.
Ich meine, im Endeffekt kann alles provozieren, wenn die Situation schon gegeben ist. Also gerade in so wirklich verhärteten Streitsituationen muss man ja nur gucken und das reicht schon. Und das lässt sich auch nicht immer auflösen. Ich glaube, das sind auch Situationen, in denen vielleicht auch einfach noch Hilfe dazukommen muss. Also wenn ich merke, wir, ich muss nur sehen, wie meine Tochter einen Apfel isst und ich bin schon stinksauer, vielleicht ist es dann auch einfach Zeit, dass noch jemand kommt und hilft.“
Mehr über den Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Demenz erfahren Sie im Pflegecoach-Thema „Demenz verstehen“.
Die Auswirkungen von Gewalt werden unterschätzt
Je nach Art und Ausmaß der erlebten Gewalt kommt es zu unterschiedlichen körperlichen und seelischen Verletzungen.
Mechthild A., 67 Jahre, berichtet:
Wegen meiner Behinderung kann ich mich kaum bewegen. Trotzdem ließ mich mein Mann oft stundenlang allein. Ich fühlte mich elendig und machtlos. Das viele Liegen hat die Durchblutung gestört und ein Wundliegen verursacht. Dekubitus nennt das der Pfleger. Die Behandlung hat mehrere Monate gedauert. Zum Glück kommt jetzt täglich ein Pflegedienst.
Anna M., 21 Jahre, berichtet:
Mein Bruder hat eine schwere Entwicklungsstörung. Seit unserem Umzug in eine neue Wohnung ist er völlig überfordert und schlägt oft in seiner Wut einfach nur noch um sich. Einmal hat er mich so hart getroffen, dass die Wunde genäht werden musste. Seitdem bin ich schreckhaft und habe Angst vor der nächsten Ausnahmesituation.
Gewalt kann von beiden Seiten ausgehen
Aus Ihrer langjährigen Erfahrung mit pflegenden Angehörigen weiß Psychologin Dr. Jana Toppe, dass sowohl Menschen mit Pflegebedarf als auch die Pflegepersonen Gewalterfahrungen machen können.
Frau Dr. Toppe erläutert im Video:
„Viele der Personen, die sich an uns wenden, die Gewalt erfahren haben, berichten so Dinge wie Schlafstörungen. Die berichten zum Beispiel Depressionen, auch Ängstlichkeit. Ganz oft kommt es auch zu Wut. Also auch so ein. Die fehlende Kontrolle, die fehlende Handlungsfähigkeit, die dann auch zu so einer Wut führt. Konzentrationsschwierigkeiten. Auch so eine Hilflosigkeit.
Und um noch mal daran zu erinnern: Das sind ja Menschen, also gerade pflegende Angehörige, die Gewalt erfahren durch die pflegebedürftige Person. Das sind ja Menschen, die immer wieder dieser Situation ausgesetzt sind. Das heißt, das sind Symptome, die sich natürlich dann mit der Zeit auch noch auf jeden Fall noch steigern lassen.
Und das ist eben keine einzigartige Situation, denn wir reden ja von häuslicher Pflege. Das heißt, ich gehe nach der Situation nicht nach Hause, meistens, sondern wir werden uns höchstwahrscheinlich an dem Tag noch mal sehen oder am nächsten Tag. Es ist auf jeden Fall immer ein Kontakt da, also sowohl erst mal ganz gleich, von wem jetzt auch die Gewalt ausging. Es ist in dem Moment ja immer so, dass ein Kontakt besteht. Es ist keine Situation, die nur einzigartig stattfindet, und dann gibt es diesen sogenannten Täterkontakt nicht mehr, sondern man muss damit anders umgehen, weil es eben immer wieder stattfinden kann.
Die Gewalt kann grundsätzlich von beiden Seiten ausgehen. Die Auslöser sind wahrscheinlich unterschiedlich, aber die Art und Weise, wie wir vielleicht im Vorfeld darauf gefasst sein können oder wie wir auch lernen können zu deeskalieren, die sollte sich oder die deckt sich wahrscheinlich. So ein bestimmter Umgang damit, dass man zum Beispiel lernt, seine eigenen emotionalen Zustände wahrzunehmen. Wann bin ich eigentlich so angespannt, dass mir die Hand ausrutschen könnte? Oder dass ich anfange, jemanden anzuschreien? Was mache ich in einer Situation, wenn mein Gegenüber anfängt zu schreien oder handgreiflich zu werden? Wie kann ich den Raum verlassen? Wie kann ich dafür auch sorgen, dass ich sicher bin, dass wir alle sicher sind? Und auch wenn ich selber merke, ich bin kurz davor, gewalttätig zu werden, wie kann ich mich aus der Situation entfernen?
Ich glaube, eine große Auswirkung dessen ist natürlich, dass uns klar werden kann, wie wenig Kontrolle wir scheinbar haben. Dass wir merken, man kommt nicht mehr in so eine Ruhe rein. Und auch die Angst, die dann steigt. Wann passiert das wieder? Also Menschen, die da reflektiert sind, werden sich hinsetzen und sagen: Um Gottes willen, was ist da gerade passiert? Wird es noch mal vorkommen? Ich habe offensichtlich keine Kontrolle mehr über mich selbst. Was mache ich jetzt?"
Tipp aus der Redaktion:
Kennen Sie schon das Barmer Kompaktseminar?
„Ich pflege – auch mich“