Grenzen wahren
Wer einen anderen Menschen pflegt, trägt eine große Verantwortung. Pflegebedürftige sind abhängig von der Unterstützung anderer. Gleichzeitig nehmen Sie als pflegende Angehörige Entbehrungen und Strapazen auf sich. Ein gegenseitig sensibler Umgang mit den Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen des Gegenübers ist daher sehr wichtig.
Alle Menschen haben die gleichen Grundbedürfnisse. Sie möchten sich sicher und geborgen fühlen, ihre Individualität ausdrücken, Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und eigene Entscheidungen treffen. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten in einer Pflegesituation in der Lage sind, diese Grundbedürfnisse möglichst gut zu befriedigen.
In schwierigen Momenten kann es vorkommen, dass man den eigenen Anspruch an ein gutes Miteinander nicht aufrecht halten kann. Wenn etwa Geldsorgen drängen oder eigene Auszeiten fehlen, kann der Unmut über die Situation zunehmen. Als Ausdruck dieser Belastung reagieren Menschen möglicherweise genervt, kühl und ablehnend. In solchen Fällen steigt das Risiko für problematische Verhaltensweisen.
Sechs Menschen erzählen hier von herausfordernden Situationen in der häuslichen Pflege.
Roland W., 57 Jahre
Ich pflege meine an Demenz erkrankte Mutter. Man kann sie nicht aus den Augen lassen, weil sie ständig wegläuft. Mein Leben dreht sich nur noch um ihre Krankheit. Neulich habe ich sie in ihr Schlafzimmer eingesperrt und bin gegangen. Als ich zurückkam, weinte sie vor Angst und es tat mir unendlich leid.
Sibylle A., 42 Jahre
Meine Oma leidet an Inkontinenz und hat ihre nasse Unterwäsche immer wieder versteckt. Das ganze Haus roch danach. ,Wenn du nicht damit aufhörst, stecke ich dich ins Heim!' Das habe ich zu ihr gesagt. Es war das Einzige, das Wirkung zeigte. In einer Selbsthilfegruppe wurde mir zurückgemeldet, wie viel seelischen Schaden diese Drohung anrichten kann.
Robert T., 81 Jahre
Früher verbrachte ich Stunden in meiner Garage, um Autos zu reparieren. Seit meinem Schlaganfall kann ich das nicht mehr. Es macht mich unfassbar wütend – und meine Frau bekommt immer alles ab. Neulich hatte sie richtig Angst, weil ich so laut geschrien hab. Ich spüre, dass sie mich seitdem meidet.
Maybritt L., 56 Jahre
Ich kann nicht mehr. Jede Nacht ruft mein Schwiegervater um Hilfe. Wenn ich nur seine Stimme höre, stehen mir die Haare zu Berge. Ich habe kaum noch die Kraft, das auszuhalten. Inzwischen packe ich ihn beim Gehen so fest, dass er blaue Flecken bekommt. Keiner von uns kann mit dieser Situation glücklich sein.
Mustafa P., 63 Jahre
Ich habe kein besonders gutes Verhältnis zu meinem Vater. Weil er nicht mehr richtig laufen kann, übernehme ich für ihn den Wocheneinkauf. Wenn etwas fehlt, brüllt er mich an und beleidigt mich. Dass er ungepflegt und manchmal eingenässt vor mir steht, ist mir dann egal.
Edeltraut U., 79 Jahre
Meine Tochter pflegt mich neben ihrem Beruf. Sie besucht mich jeden Tag und ich rufe sie zusätzlich an. Ich kann nicht anders. Ich muss doch wissen, dass es ihr gutgeht und sie nicht vergisst, bei mir vorbeizuschauen. In letzter Zeit ist sie immer so gereizt und schimpft mit mir. Dabei meine ich es doch nur gut.
In allen oben geschilderten Situationen hat jemand das Wohlbefinden oder die Bedürfnisse eines anderen Menschen missachtet. Solche Grenzüberschreitungen passieren in vielen Pflegesituationen. Sie sind den Betroffenen oft peinlich und werden nicht selten verheimlicht. Betrachten Sie eine Grenzüberschreitung als ernstes Warnsignal dafür, dass etwas nicht in Ordnung ist.
In manchen Fällen liegt problematisches oder aggressives Verhalten in einer Erkrankung oder Behinderung begründet. Beispiele hierfür sind demenzielle Erkrankungen und psychische Störungsbilder wie die Schizophrenie. Auch Schmerzen können herausforderndes Verhalten verursachen.
Wie angespannt ist meine Pflegesituation?
Konflikte können zu Grenzüberschreitungen führen. Die folgenden Fragen können Ihnen dabei helfen, das Risiko für Grenzüberschreitungen in Ihrer Pflegesituation einzuschätzen.
Bitte beachten Sie, dass der Fragebogen lediglich zum Nachdenken anregen soll und keine fachliche Beratung ersetzt. Am Ende erhalten Sie eine Auswertung. Ihre Antworten werden nicht dauerhaft gespeichert und sind anonym.
„*“ zeigt erforderliche Felder an
Was belastet pflegende Angehörige?
Die Psychologin und systemische Beraterin Dr. Jana Toppe leitet die Online-Beratungsstelle „pflegen-und-leben.de“. Hier erzählt Sie, was pflegende Angehörige belastet.
Frau Dr. Jana Toppe erklärt im Video:
„Ich bin Dr. Jana Toppe. Ich bin Psychologin und systemische Therapeutin und ich leite die psychologische Onlineberatung „pflegen-und-leben.de“. Es macht sehr viel Spaß, ja. Es ist auch eine sehr, sehr wichtige Aufgabe und sehr vielfältig vor allen Dingen. Und auch einfach eine Zielgruppe, die leider immer noch häufig unterversorgt ist und auch übersehen wird.
An uns wenden sich tatsächlich sehr unterschiedliche Personen in ganz unterschiedlichen Pflegesituationen auch. Das können zum Beispiel pflegende Eltern sein, das sind teilweise Angehörige, erwachsene Kinder von Menschen, die jetzt pflegebedürftig sind, Angehörige von an Demenz Erkrankten, Partner, Partnerinnen, die pflegen. Es ist eine sehr breit gefächerte Gruppe. Was aber sehr ähnlich ist, ist die Tatsache, dass sie alle sehr belastet sind.
Also in unterschiedlichen Stadien dieser Pflegereise, sage ich mal, wenden sie sich an uns und ganz viele Menschen bemerken einfach, dass diese Organisation und diese Struktur der Pflege ihren ganzen Tag einnimmt. Das heißt, viele sehen sich auch in einer Mehrfachbelastung. Das heißt, da kommt dann auch noch eventuell eine Vollzeitstelle dazu, da kommt eine Familie dazu, da kommt die Pflege und dann gibt es keinen Raum mehr für diese pflegende Person. Auf einmal ist das alles durchstrukturiert.
Es kommt teilweise zu Konflikten unter Pflegenden, innerhalb der Familie. Es werden Dinge nicht gut ausgesprochen oder es gibt einfach auch Kommunikationsschwierigkeiten. Es gibt ganz häufig auch finanzielle Schwierigkeiten. Es müssen teilweise Vollzeitstellen gekündigt oder eingeschränkt werden. Das heißt, es geht oft darum, auch in dieser Belastung erst mal überhaupt einen Lichtblick zu finden. Wie kann ich mich strukturieren, wie kann ich für mich sorgen, vielleicht auch. Und wer leiht mir auch einfach mal ein offenes Ohr?
Wenn man nie eine Kommunikationskultur gelernt hat in der Familie. Ich glaube, das ist einfach bei ganz, ganz vielen der Fall. Und dann steht man vor dieser Situation und muss aber auf einmal irgendwie klarkommen. Und ganz oft kommen wir da auch rein, dass wir dann sagen können: Da gucken wir mal zusammen drauf. Und da guckt jetzt vor allen Dingen mal jemand von außen drauf. Eine Person, die gar nichts mit dieser Familienstruktur zu tun hat.
Macht manchmal auch Spaß, auf Systeme zu gucken. Aber wir sehen natürlich auch sehr viel, dass es oft ja gar kein individuelles Versagen ist und oder familiäres Versagen, sondern es ist ein größeres System. Was wir ganz oft sehen, ist das eben so die strukturellen Rahmenbedingungen oft ganz viel dazu beitragen. Da gibt es eine starke Überlastung. Es ist nicht jeder Person möglich, einen Job zu kündigen und zu sagen: Ich widme mich jetzt der Pflege. Und durch diese Überlastung kommt es ja auch ganz oft zu Konflikten, zu herausforderndem Verhalten, weil sich das dann auch so, so wunderbar gegenseitig aufbauschen kann.
Es ist ja generell so anerkennenswert, diese Pflege zu machen. Das sind ja Menschen, die ganz oft nicht gesehen werden und die auch wenig Anerkennung erfahren. Und was ja auch wiederum übrigens das Burnoutrisiko erhöht. Das ist ein massiver Einsatz, den sie da leisten und dann oft wenig Anerkennung erfahren, wenig Dank, wenig gesehen werden und sich Hilfe zu suchen in dieser Situation, wo man merkt: Ich glaube, ich kann bald gar nicht mehr. Ich kann nicht mehr schlafen. Ich habe vielleicht auch Schmerzen, die Ohren klingeln. Ich bin ständig wütend. Das erfordert ja ganz viel Kraft.
Also ich finde, der Moment, wo ich sage: ,Ich gehe jetzt zu fremden Menschen'. Und das sind wir ja in dem Moment und sage: ,Ich kann nicht mehr'. Das erfordert, das ist ein ganz, ganz starker Akt, finde ich. Und das ist auch ganz, ganz wichtig anzuerkennen, weil man ja auch nur so Besserung erfahren kann."